Georges Henein / Photograph by Boula Henein | Courtesy: Farhi Estate, Paris and the artist

After the Wildly Improbable

Veröffentlicht von

kuratiert von Adania Shibli
im Rahmen von Why Are We Here Now?

Freitag, 15.9. ab 18h & Samstag, 16.9. ab 14h 
Performances, Lectures, Filme, Konzert

Berlin- Wie ließe sich Vergangenheit bis ins Hier und Heute erzählen, wenn die Schienen sprächen? Im späten 19. Jahrhundert begann das Osmanische Reich mithilfe des Deutschen Reiches und seiner Banken zwei Großprojekte, die infolge des Ersten Weltkriegs weitgehend unvollendet blieben: ein Eisenbahnnetz, das Berlin mit Bagdad verbinden sollte, und ein zweites, die Hedjaz-Bahn von Damaskus bis Mekka mit Bahnlinien bis nach Jerusalem und Alexandria.

Was kann das Schienennetz über den Zerfall des Osmanischen Reichs und dessen Nachwirkungen berichten? Können die Bahnlinien, die mehr als ein Jahrhundert lang an verschiedenen Orten als „Zeitzeugen“ existierten, dabei helfen, den Bezug zur Geschichte herzustellen und Ereignisse aus der Region heraus zu erforschen? Wie lassen sich Verbindungslinien vorstellen, die nicht mehr existieren? Und wo sind Spuren dieser Verbindungen heute zu finden?

Ausgehend von diesen Fragen gestaltet die palästinensische Autorin und Kulturwissenschaftlerin Adania Shibli das erste Wochenende After the Wildly Improbable im Rahmen der dreiteiligen Performance- und Diskursreihe Why Are We Here Now?

Shibli nähert sich dem Themenkomplex mit einem Perspektivwechsel: in Performances, Präsentationen, Filmen und Gesprächen fungieren Künstler_innen, Schriftsteller_innen und Wissenschaftler_innen als Mediator_innen, um den Schienen eine Stimme zu verleihen – aus ihrer Perspektive, nicht mehr als fünfundzwanzig Zentimeter über dem Boden. Indem sie nicht über die Bahnlinie sprechen, sondern ihr gleichsam dabei assistieren, von sich selbst zu erzählen, bringen sie das ebenso Reale wie Unwahrscheinliche der Bahnlinie zum Vorschein. “Wildly improbable, not to say fantastic”: die Worte, mit denen der britische Konsul in Damaskus um 1900 das Unterfangen der Hedjaz-Bahn beschrieb, geben diesem kollektiven Essay seinen Titel.

In sechs Kapiteln spannt Adania Shibli zum Auftakt von Why Are We Here Now? einen großen zeitlichen und geographischen Bogen, der alle drei Wochenenden verbindet. Wie auch Mohammad Al Attar und Rabih Mroué untersucht Shibli dabei die Transformationen des vergangenen Jahrhunderts im südlichen und östlichen Mittelmeerraum. Bewusst meiden sie die großen Erzählungen Fortschritt, Zivilisation und Orientalismus.

Zum Auftakt zeigt Züge von früher, Gleise von heute wie das Schienennetz des Osmanischen Reichs – zu seiner Zeit Manifestation von Moderne, Kapitalismus und imperialer Gesinnung – bis heute in Filmen, Liedern, Hochzeitsgesängen und literarischen Texten weiterlebt. Spuren dieser immateriellen Evidenz finden unter anderem die Schriftsteller_innen Priya Basil & Sinan Antoon und der Soziologe Salim Tamari.

In Kriegs- und Nachkriegslandschaften kommt der Bahn eine weitere Bedeutung zu: Einerseits ist sie Sammelpunkt und Verbindung, anderseits trennt sie, verstreut die Menschen über weite Räume. Von diesen gegenläufigen Bewegungen – im Libanon der 70er Jahre, im geteilten Deutschland oder in Europa, wo im Sommer 2015 Flüchtende entlang der Schienen Zuflucht suchten – erzählt Nachkriegslandschaften in Filmen, Texten und Vorträgen. Die Indigene Künster_innengruppe produziert hierfür einen neuen Film.

Mit Unsanft gebrochener Fluss des Reisens sind Vorträge und Lecture Performances überschrieben, die Hinweise nach Details über die Akkumulation von Kapital entlang der Gleise zu entschlüsseln suchen sowie deren Verbindung zu Kolonialismus, Nationalismus und globalem Imperialismus. So konzentriert sich Zeynep Celik in ihrem Vortrag auf die Museologie und Archäologie und untersucht die Verbindung zwischen Kunstobjekten und dem Eisenbahnbau.

In Zwischen den Zeilen steht die Zirkulation von Ideen einerseits, realen Kunstwerken und Büchern anderseits im Zentrum der Betrachtungen. Das Osmanische Eisenbahnnetz inspirierte im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts Paradigmenwechsel in literarischen Vorstellungswelten und künstlerischer Praxis. Das in Berlin lebende Verlags- und Künstlerkollektiv Fehras Publishing Practices zeigt in seiner Lecture Performance, wie der 1907 erbaute Bahnhof  von  Damaskus in den letzten Jahren zu einer Bibliothek umfunktioniert wurde.

In Lebendige Spuren kommt nun die Bahn selbst zu Wort: Sie gibt Geheimnisse preis, die sich über und unter ihren Gleisen auftun. Dem Mythos vergrabener Goldsäcke unter der Hijaz-Bahn spürt der Künstler Adel Abidin nach, die Geobotanikerin und Künstlerin Gülnur Ekşi spricht vom Verschwinden typischer Pflanzenarten durch den Bau der Eisenbahn, aber auch von der Entstehung von Hybriden durch genetische Kreuzung. Die Klanginterpretationen des aus Istanbul lebenden Soundkünstlers Sair Sinan Kestelli beschließen das von Adania Shibli kuratierte Wochenende.  

Adania Shibli ist Autorin und Kulturwissenschaftlerin. Ihre Arbeiten erkunden die Geschichte des Blicks in der arabischen Kultur und setzen sich mit politischen und sozialen Realitäten auseinander. Ihre Kurzgeschichten und Essays wurden in mehreren Anthologien, Künstlerbüchern sowie in Literatur- und Kulturmagazinen veröffentlicht. Zu ihren Buchpublikationen und Romanen zählen Minor Detail (2016), A Journey of Ideas Across: In Dialog with Edward Said (2014), Keep Your Eye on the Wall: Palestinian Landscapes (2013), Dispositions (2012) und Touch (2010). Shibli wurde 2002 und 2004 mit dem Young Writer’s Award der A.M. Qattan Foundation ausgezeichnet. Sie veröffentlicht regelmäßig Beiträge in verschiedenen Journalen, Zeitungen und Magazinen. Seit 2013 ist Shibli Gastprofessorin am Department of Philosophy and Cultural Studies an der Birzeit University, Palästina. 

Why Are We Here Now? wird vom 21. bis 23.9. mit einer Performance des syrischen Dramatikers Mohammad Al Attar fortgesetzt. In Aleppo. A Portrait of Absence fragt Al Attar nach Möglichkeiten, die Stadt zu rekonstruieren – durch Erzählungen der Einwohner_innen von ihren Lieblingsorten. Zum Abschluss erkundet der libanesische Theaterregisseur und Künstler Rabih Mroué in einer Reihe „nicht-akademischer Vorträge“ unter dem Titel How Close Could We Get to the Light and Survive? (6. & 7.10.) neue Formen in der Kunst, um über die Komplexität von Geschichte zu sprechen. 

Why Are We Here Now? findet im Rahmen von 100 Jahre Gegenwart statt. 100 Jahre Gegenwart wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert. Das Haus der Kulturen der Welt wird durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie durch das Auswärtige Amt gefördert.

                          Why Are We here Now?                     

Adania Shibli:
After the Wildly Improbable
15. & 16.09.2017

Mohammad Al Attar:
Aleppo. A Portrait of Absence
21. – 23.09.2017

Rabih Mroué:
How Close Could We Get to the Light and Survive?
6. & 7.10.2017 

Tickets: 4 bis 14 Euro 

Haus der Kulturen der Welt
John-Foster-Dulles-Allee 10
D-10557 Berlin

Quelle:Haus der Kulturen der Welt Foto: Georges Henein / Photograph by Boula Henein | Courtesy: Farhi Estate, Paris and the artist